Mit großen Worten ist Anfang April 2023 das „Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz“ (11. GWB-Novelle) vom Bundeskabinett verabschiedet worden. Das Kartellrecht soll durch die Novelle mit „Klauen und Zähnen“ ausgestattet werden. Nach den Verlautbarungen der Bundesregierung sollen „Störungen des Wettbewerbs im Sinne der Verbraucher besser abgestellt werden können. Dort, wo die Marktstruktur dem Wettbewerb entgegensteht – etwa, weil es nur wenige Anbieter im Markt gibt und regelmäßig parallele Preisentwicklungen zu Lasten der Verbraucher zu beobachten sind – sollen die Eingriffsinstrumente des Kartellrechts geschärft werden“.
Im Wesentlichen lassen sich drei Kernthemen der Gesetzesnovelle identifizieren:
- Einführung von Markteingriffsbefugnissen für das Bundeskartellamt inkl. der Befugnis zur Entflechtung als ultima ratio bei Wettbewerbsstörungen,
- Reform der Vorteilsabschöpfung,
- Untersuchung von Verstößen gegen den Digital Markets Act (DMA).
Die geplanten Änderungen begründen in jedem Fall einen Paradigmenwechsel und verschärfen die Anwendung des deutschen Kartellrechts. Ob dies für den Mittelstand eher Chancen oder Risiken mit sich bringt, lesen Sie hier.
1. Neue Markteingriffsbefugnisse für das Bundeskartellamt
Die bisherigen Instrumente des Kartellrechts reichen nach Ansicht des Gesetzgebers in bestimmten Fällen nicht aus, um marktstrukturelle Probleme zu lösen, die wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen haben könnten. Der Gesetzgeber sieht daher Bedarf für eine Ergänzung des Kartellrechts um Instrumente, die es den Wettbewerbsbehörden ermöglichen, gegen solche marktstrukturellen Probleme vorzugehen, auch wenn (noch) kein konkreter Verstoß gegen das Kartellrecht vorliegt.
Mit der Einführung des neuen § 32f GWB-E soll das Bundeskartellamt mittels Allgemeinverfügung Abhilfemaßnahmen gegen auf dem Markt tätige Unternehmen treffen können. Beispiele für denkbare Abhilfemaßnahmen finden sich in § 32f Abs. 3 GWB-E:
- Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen, Netzen oder sonstigen Einrichtungen,
- Vorgaben zu den Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen auf den untersuchten Märkten und auf verschiedenen Marktstufen,
- Verpflichtung zur Etablierung transparenter, diskriminierungsfreier und offener Normen und Standards durch Unternehmen,
- Vorgaben zu bestimmten Vertragsformen oder Vertragsgestaltungen einschließlich vertraglicher Regelungen zur Informationsoffenlegung,
- das Verbot der einseitigen Offenlegung von Informationen, die ein Parallelverhalten von Unternehmen begünstigen,
- die organisatorische Trennung von Unternehmens- oder Geschäftsbereichen.
Als ultima ratio kann das Bundeskartellamt marktbeherrschende Unternehmen sowie Unternehmen mit einer überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb nach §19a Abs. 1 GWB sogar verpflichten, Unternehmensanteile oder Vermögen zu veräußern, wenn zu erwarten ist, dass durch diese Maßnahme die erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs beseitigt oder erheblich verringert wird. Auch dies soll unabhängig von einem Rechtsverstoß des betroffenen Unternehmens möglich sein.
Die neuen Befugnisse – Paradigmenwechsel und Ende der liberalen Zurückhaltung?
Das Kartellrecht galt bislang als Instrument zur Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft. Unter ordo-liberalen Prämissen gab das Kartellrecht Leitplanken vor, in denen Unternehmer am Markt tätig werden konnten. Eingriffe des Staates in den Wettbewerb selbst waren bislang – abgesehen vielleicht von der umstrittenen Ministererlaubnis – nicht vorgesehen.
Im Kontext von Kartell- und Marktmissbrauchsverbot und auch der Fusionskontrolle dienen Sektoruntersuchungen bislang vor allem dem Erkenntnisgewinn des Bundeskartellamtes, um zu verstehen, wie Märkte in ausgewählten Branchen funktionieren. Wenn das Bundeskartellamt während einer Sektoruntersuchung feststellt, dass der Wettbewerb auf einem Markt beeinträchtigt ist, ohne dass ein Verstoß gegen bestehendes Kartellrecht vorliegt, bleibt es bei der reinen Feststellung.
Und darin liegt nun die Neuheit der Eingriffsbefugnisse: Sie können eingesetzt werden auch wenn die Unternehmen, die auf dem betroffenen Markt tätig sind, sich kartellrechtskonform verhalten. Als Adressaten einer Abhilfemaßnahme kommen nicht nur marktmächtige Unternehmen in Betracht, sondern gemäß § 32f Abs. 3 S. 3 GWB-E auch Unternehmen unterhalb der Schwelle zur Marktmacht. Anknüpfungspunkt für die Adressatenstellung soll nach der Gesetzesbegründung das Verhalten von Unternehmen sein, die „zur Störung des Wettbewerbs in ihrer konkreten Ausprägung wesentlich beitragen. Dabei ist eine Verletzung des Wettbewerbsrechts durch das entsprechende Unternehmen nicht erforderlich. Ein wesentlicher Beitrag liegt bereits in jedem am Markt spürbaren Verhalten.“
Zu erwartende Reaktionen auf den Gesetzesentwurf liegen weit auseinander
Befürworter der erweiterten Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts argumentieren, dass diese notwendig sind, um auch marktstrukturelle Ursachen für eine Störung des Wettbewerbs bekämpfen zu können. Sie sehen in der neuen Regelung eine Möglichkeit, gegen Machtmissbrauch und Monopole vorzugehen und so den Wettbewerb zu fördern. Durch die neue Regelung könnten auch effektivere und zeitnahe Eingriffe erfolgen, um negative Entwicklungen auf Märkten zu verhindern.
Kritiker – insbesondere aus der Wirtschaft - befürchten hingegen, dass die neue Regelung zu einer Einschränkung der unternehmerischen Freiheit und einer Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit führen könnte. Sie argumentieren, dass es keine ausreichenden Gründe gibt, in unternehmensinterne Entscheidungen einzugreifen, solange keine Verstöße gegen das Kartellrecht vorliegen. Zudem befürchten sie eine Überforderung des Bundeskartellamts bei der Umsetzung der neuen Regelung und dass die präventive Marktstrukturkontrolle politisch missbraucht werden könnte.
2. Vorteilsabschöpfung von Kartellgewinnen – jetzt mit „Zähnen“?
Schon jetzt kann das Bundeskartellamt als verwaltungsrechtliche Maßnahme gemäß § 34 GWB wirtschaftliche Vorteile abschöpfen, die ein Unternehmen durch einen Verstoß gegen das Kartellrecht erlangt hat. Das Bundeskartellamt muss jedoch nach der aktuellen Rechtslage ökonometrisch den tatsächlich erlangten Vorteil berechnen. Da diese Berechnungen im Detail schwierig sind und damit Angriffspotenzial für die betroffenen Unternehmen bieten, ist dieses Instrument bislang weitgehend bedeutungslos.
Dies möchte der Gesetzgeber ändern, indem er in dem Gesetzesentwurf die bestehenden Vorschriften um eine „Vorteilsvermutung“ erweitert. Demnach soll vermutet werden, dass bei einem Kartellverstoß der wirtschaftliche Vorteil mindestens 1 % derjenigen Umsätze beträgt, die im Inland mit dem kartellbetroffenen Produkt erwirtschaftet wurden. Mit dieser Pauschalisierung soll es dem Bundeskartellamt erleichtert werden, von der Vorteilsabschöpfung Gebrauch zu machen. Darüber hinaus kann die Pauschalisierung der Vorteilsabschöpfung insbesondere da wirksam greifen, wo wegen Streuschäden nicht mit einer Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen zu rechnen ist.
Die Verteidigungsmöglichkeiten gegen die Vorteilsvermutung sind beschränkt. Gegen die Vermutung soll laut Gesetzesentwurf nicht vorgebracht werden können, dass kein wirtschaftlicher Vorteil oder ein Vorteil in nur geringer Höhe angefallen ist. Sie kann nur widerlegt werden, soweit das Unternehmen nachweist, dass weder die am Verstoß unmittelbar beteiligte juristische Person noch das Unternehmen als wirtschaftliche Einheit im Abschöpfungszeitraum einen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat. Damit liegt die Hürde zur Widerlegung des pauschalisierten Vorteils sehr hoch, was rechtsstaatlich bedenklich ist. Auch wird verfassungsrechtlich zu prüfen sein, ob mit der Pauschale von 1 % die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird.
3. Befugnisse zur Umsetzung des Digital Markets Act (DMA)
Die geplante Kartellrechtsreform soll auch dazu dienen, dem Bundeskartellamt Ermittlungsbefugnisse bei möglichen Verstößen gegen den europäischen DMA (Verordnung 2022/1925 über bestreitbare und faire Märkte im digitalen Sektor) zu geben. Der DMA sieht besondere Wettbewerbspflichten für sogenannte „Torwächter“-Unternehmen vor, d.h. für Unternehmen, die nach Feststellung der Europäischen Kommission einen zentralen Plattformdienst in der EU bereitstellen und einen erheblichen Einfluss auf den Binnenmarkt haben. Torwächter-Unternehmen unterliegen nach Artikel 5 DMA beispielsweise Pflichten, personenbezogene Daten von Endnutzern nicht zur Verstärkung der eigenen Marktposition auf anderen Märkten als dem angebotenen Plattformdienst zu nutzen.
4. Chancen und Risiken für den Mittelstand
Für die Situation von kleinen und großen mittelständischen Unternehmen sind insbesondere die geplanten Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamtes bei „Störungen des Wettbewerbs“ ein zweischneidiges Schwert. Ob sich die Möglichkeiten positiv oder negativ auswirken, hängt von der jeweiligen Marktposition des mittelständischen Unternehmens ab:
Durch die geplanten Eingriffsbefugnisse können (und sollen) Märkte, auf denen der Wettbewerb gestört ist, aufgebrochen werden. Hiervon profitieren mittelständische Unternehmen, indem sich neue Geschäftschancen ergeben können.
Allerdings handelt es sich bei den geplanten Eingriffsmöglichkeiten um einen langwierigen Weg, weil zunächst eine Sektoruntersuchung durchgeführt werden muss. Danach steht es im Ermessen des Bundeskartellamtes, welche Abhilfemaßnahmen es für den betroffenen Markt einsetzen will. Auf dieses Verfahren haben die auf dem betroffenen Markt tätigen Unternehmen in der Regel keinen Einfluss.
Außerdem können auch mittelständische Unternehmen Adressaten der Abhilfemaßnahmen sein. Denn nicht die wirtschaftliche Größe eines Unternehmens allein entscheidet über die Adressatenstellung, sondern die jeweilige Marktmacht des Unternehmens. Je nach Abgrenzung eines Marktes können auch mittelständische Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung oder eine relative Marktmacht innehaben. Dies gilt gerade auch für die zahlreichen Hidden Champions des deutschen Mittelstands.
Bei der geplanten Stärkung der Vorteilsabschöpfung kann es für mittelständische Unternehmen mit Blick auf die Widerlegung der Vorteilsvermutung und die dazu erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen zu Nachteilen kommen. Im Übrigen gelten die rechtsstaatlichen Bedenken zur Verfassungsmäßigkeit der Pauschale für Unternehmen aller Größen gleichermaßen.
Von den DMA-Ermittlungsbefugnissen des Bundeskartellamtes sind mittelständische Unternehmen als Adressaten voraussichtlich nicht unmittelbar betroffen. Ist aber ein Unternehmen bei seiner Tätigkeit auf eine Zusammenarbeit mit einem Torwächter-Unternehmen angewiesen, so kann es für die wirtschaftlichen Beziehungen allgemein hilfreich sein, sich mit den Rechten und Pflichten von Torwächter-Unternehmen nach dem neuen DMA vertraut zu machen.
5. Ausblick
Schon die Regeln des traditionellen Kartellrechts werden von einigen Unternehmen als lästiges Hindernis im unternehmerischen Handeln wahrgenommen. Dabei bringt das Kartellrecht nicht nur Verbote mit sich, sondern kann durchaus auch nützliche Gestaltungsspielräume eröffnen – auch jetzt schon und gerade für mittelständische Unternehmen.
Die aktuellen Entwicklungen auf gesetzgeberischer Ebene zeigen allerdings, dass Kartellrechtscompliance keineswegs ein Nischenthema ist, sondern stets mitbedacht werden sollte. Denn die Tendenz geht zu einem „Mehr“ an Wettbewerbsregeln und nicht zu einem „Weniger“.
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.