Das Kartellverbot des Art. 101 AEUV umfasst auch vertikale Vereinbarungen, das heißt Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die nicht auf der gleichen Marktstufe tätig sind. Mit der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) und den dazugehörigen Vertikalleitlinien nimmt die Kommission einige Gruppen von vertikalen Vereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen aus dem Kartellverbot heraus. Ziel ist es, den Unternehmen mehr Rechtssicherheit - einen sogenannten safe harbor - zu geben.
Da die Vertikal-GVO und die dazugehörigen Leitlinien von 2010 nur befristet gelten, steht eine Reform an. Die neue Vertikal-GVO (“Vertikal-GVO-E") und die neuen Vertikalleitlinien (“Vertikalleitlinien-E") sollen ab dem 01.06.2022 gelten.
Da es seit 2010 einige Veränderungen in der Vertriebslandschaft gab, insbesondere mit Blick auf den Online-Vertrieb, überprüfte die Kommission unter Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit die Frage, ob und in welcher Form es neuer Regelungen bedarf. Die neue Vertikal-GVO ist die Essenz aus den Stellungnahmen der öffentlichen Konsultation und eigenen Überlegungen der Kommission – z.T. durch Workshops und Gutachtachten gestützt. Sie soll auch weiterhin das von der Anwendungspraxis ausgedrückte Bedürfnis nach Rechtssicherheit bei der kartellrechtlichen Beurteilung von Vereinbarungen im vertikalen Verhältnis - des safe harbor – erfüllen.
Das Konsultationsverfahren wurde durch die Kommission transparent gestaltet. Mit bedeutenden Änderungen an den bisher vorliegenden Entwürfen zur neuen Vertikal-GVO und den Vertikalleitlinien ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr zu rechnen.
Wesentlichen Neuerungen
In dieser Beitragsserie geben wir einen Überblick über die wesentlichen Änderungen. Als Schwerpunkt stellen wir die (Neu)Regelungen zu den folgenden Themen vor:
- Dualer Vertrieb - Aufgepasst beim zweigleisigen Fahren
- Plattformen - Der Marktplatz im Internet
- Preisbildung – Der Preis ist heiß
- Selektiv- bzw. Alleinvertriebssysteme – Allein auf weiter Flur, oder doch nicht?
Diese Beitragsserie soll eine erste Hilfestellung geben, um einschätzen zu können, inwiefern aktuelle Vertriebsvereinbarungen überprüft werden müssen und ob sie nach den neuen Regeln wirksam sind. Darüber hinaus geben wir Hinweise, wie neue Spielräume ausgenutzt werden können.
Ein erstes Beispiel für neue Spielräume
Als Beispiel für die Eröffnung neuer Möglichkeiten kann ein Blick auf die Bindungsdauer bei Exklusivitäten und Wettbewerbsverboten dienen. Durch die neue Vertikal-GVO ändern sich die Möglichkeiten, einen Abnehmer “ewig” zu binden. Im neuen Art. 5 Abs. 1 lit. a) Vertikal-GVO-E fällt die Fiktion weg, dass Wettbewerbsverbote, die länger als fünf Jahre laufen sollen, als Wettbewerbsverbote auf unbestimmte Zeit gelten – und damit nicht freigestellt waren. Ebenso waren stillschweigende Verlängerungen von Wettbewerbsverboten als Verbote auf unbestimmte Zeit angesehen worden und damit nicht freigestellt. Nach den neuen Vertikalregeln können Wettbewerbsverbote nun stillschweigend verlängert werden und trotzdem von einer Freistellung profitieren, solange der Abnehmer eine angemessene Kündigungsfrist oder eine angemessene Möglichkeit zur Neuverhandlung des Vertrages erhält.